Den Weg zu studieren bedeutet, sich selbst zu studieren. Sich selbst zu studieren bedeutet, sich selbst zu vergessen. Sich selbst zu vergessen bedeutet, durch unzählige Dinge verwirklicht zu werden.
Diese Worte wurden vor fast 800 Jahren geschrieben. Sie öffnen die Tür zur Welt von Dōgen Zenji.
Dōgen Zenji (1200–1253) war ein japanischer buddhistischer Mönch, Philosoph und Dichter, der die Sōtō-Schule des Zen in Japan begründete. Er gilt als einer der tiefgründigsten und anspruchsvollsten Denker der buddhistischen Geschichte.
Seine Lehren sind nicht bloß alte Geschichten aus der Vergangenheit. Sie laden uns ein, zu erforschen, was real ist, wie die Zeit funktioniert und wer wir wirklich sind.
Dieser Leitfaden geht über die bloße Erzählung seiner Lebensgeschichte hinaus und beleuchtet die bahnbrechenden Ideen, die seine Lehren für immer lebendig machen. Wir werden die Hauptideen des Dōgen-Zen-Buddhismus aufschlüsseln, einem Weg, der Freiheit nicht in einer fernen Zukunft, sondern genau hier im Moment findet.
Die große Frage
Frühe Vergänglichkeit
Dōgen wurde im Jahr 1200 in einer unruhigen Zeit in eine wohlhabende Familie in Kyoto geboren. Sein hoher Status konnte ihn nicht vor den harten Wahrheiten des Lebens schützen.
Er verlor seinen Vater in jungen Jahren und seine Mutter mit sieben Jahren. Als er bei ihrer Beerdigung den Rauch des Weihrauchs aufsteigen sah, wurde ihm klar, dass nichts für die Ewigkeit ist.
Diese frühe Begegnung mit dem Verlust löste in ihm die große Frage aus, die zu seiner Lebensaufgabe werden sollte: Wenn alle Wesen die Buddha-Natur besitzen, warum müssen wir dann so hart daran arbeiten, sie zu verwirklichen?
Eine Reise nach China
Da Dōgen mit den Antworten, die er in Japans buddhistischen Schulen fand, nicht zufrieden war, unternahm er eine riskante Reise. Im Jahr 1223 segelte er nach China, dem Geburtsort des Zen, um die wahre Lehre zu finden.
Seine Suche war nicht einfach. Viele Tempel, die er besuchte, schienen die reine Praxis, die er suchte, verloren zu haben.
Dann traf er seinen Lehrer Tiantong Rujing und fand, wonach er suchte. Rujing lehrte mit leidenschaftlicher Ehrlichkeit. Eines Tages schalt er während der Meditation einen Mönch, weil dieser eingeschlafen war. Er sagte, dass Praktizieren bedeute, „Körper und Geist abzulegen“.
In diesem Moment erlebte Dōgen ein tiefes Erwachen. Die Worte „Shinjin Datsuraku“ (身心脱落), die Körper und Geist ablegten, durchbrachen seinen denkenden Verstand und öffneten ihm die Tür für eine direkte Sicht auf die Realität.
Rückkehr und Gründung
Dōgen kehrte 1227 nach Japan zurück, nicht mit seltenen Texten oder heiligen Gegenständen, sondern mit einem klaren Ziel: die Praxis des Zazen (Sitzmeditation) in seiner reinsten Form zu lehren.
Er wollte eine Art der Ausübung schaffen, die frei von Politik und komplexen Ritualen war, die seiner Meinung nach den Kern der Lehre Buddhas verbargen.
Diese Mission führte ihn zur Gründung der Sōtō-Schule, heute die größte Zen-Gruppe in Japan, und legte den Grundstein für das, was wir heute Dōgen-Zen-Buddhismus nennen.
- 1200: Geboren in Kyoto
- ca. 1207: Verliert seine Mutter, vertieft spirituelle Fragen
- 1223: Reisen nach China
- 1225: Erlangt Erleuchtung unter Meister Rujing
- 1227: Rückkehr nach Japan
Das Herz des Unterrichts
Shikantaza: Einfach nur sitzen
Im Mittelpunkt von Dōgens Lehre steht die Praxis des Shikantaza , was „einfach sitzen“ bedeutet.
Das klingt einfach, verändert aber alles. Für Dōgen ist Zazen keine Methode, um Erleuchtung zu erlangen . Es ist Erleuchtung in Aktion.
Wir sitzen nicht, um ein Buddha zu werden. Wir sitzen, weil wir bereits Buddha sind, und diese Art des Sitzens zeigt, wie diese Wahrheit in Aktion wirkt.
Dies unterscheidet sich stark von anderen Meditationsarten, die auf Ziele abzielen – wie etwa die Beruhigung des Geistes oder das Gewinnen von Erkenntnissen. Shikantaza hat kein Ziel, das über das Sitzen selbst hinausgeht.
Shikantaza zu praktizieren bedeutet, völlig wachsam und präsent zu sein, ohne zu urteilen. Wir sitzen mit geradem Rücken und stabiler Haltung. Wir atmen natürlich und versuchen nicht, unsere Atmung zu kontrollieren.
Wenn Gedanken auftauchen, was immer der Fall ist, kämpfen wir nicht gegen sie an und schieben sie auch nicht beiseite. Wir lassen sie einfach kommen und gehen, wie Wolken, die über den Himmel ziehen.
Die Praxis bedeutet, immer wieder zurückzukommen. Zurück zu unserer Haltung. Zurück zu unserem Atem. Zurück zur einfachen Wahrheit dieses Augenblicks.
Es ist kein Kampf um einen ruhigen Geist. Es geht darum, der Ruhe zu vertrauen, die bereits unter unseren geschäftigen Gedanken herrscht. Es geht darum, unserem eigenen Leben nahe zu sein, so wie es ist.
Shinjin-Ichinyo: Körper-Geist-Einheit
Viele von uns glauben aufgrund westlicher Vorstellungen, dass der Geist den Körper steuert, wie der Fahrer ein Auto. Wir betrachten beides als getrennte Dinge.
Dōgens Lehre des Shinjin-Ichinyo (身心一如) lehnt diese Spaltung ab. Es bedeutet „Körper und Geist sind eins.“
Damit ist nicht nur gesagt, dass Körper und Geist sich gegenseitig beeinflussen. Es ist radikaler: Sie sind zwei Seiten einer Realität.
Denken Sie an eine Kerze und ihr Licht. Das eine geht nicht ohne das andere. Die Kerze erzeugt das Licht, und das Licht ist das, was die Kerze tut.
Genauso ist die Art und Weise, wie Sie im Zazen sitzen, nicht nur ein Mittel, um Ihren Geist zu ändern. Diese Haltung ist Ihr Geist in Aktion. Ein hängender Körper ist ein hängender Geist. Eine starke, aufrechte Haltung ist ein starker, aufrechter Geist.
Diese Idee geht über Meditation hinaus. Wie wir gehen, essen und arbeiten, zeigt unseren geistigen und spirituellen Zustand.
Der Punkt ist tiefgründig: Wahres Verständnis existiert nicht nur in Ihrem Kopf. Es lebt in Ihrem ganzen Wesen – in Ihren Knochen, Ihrem Atem, jeder Ihrer Bewegungen.
Gemeinsame dualistische Sichtweise | Dōgens Sicht (Shinjin-Ichinyo) |
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Der Geist ist ein Pilot in der „Maschine“ des Körpers. | Geist und Körper sind zwei untrennbare Aspekte einer Realität. |
Wir nutzen Meditation (Körper), um den Geist zu reparieren. | Der Akt des Sitzens (des Körpers) ist der Ausdruck des erleuchteten Geistes. |
Uji: Sein-Zeit
Die vielleicht schwierigste, aber tiefgründigste Idee Dōgens ist uji (有時), oft auch „Sein-Zeit“ genannt.
Die meisten von uns stellen sich die Zeit als eine gerade Linie vor. Sie ist wie ein Fluss, der von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft fließt. Wir sehen uns als getrennt von diesem Fluss, als stünden wir an seinem Ufer oder würden von seiner Strömung getragen.
Dōgen widerlegt diese Ansicht völlig. Er lehrt, dass Zeit nicht etwas Vergehendes ist; Zeit ist Sein. Alles Sein ist Zeit.
Die Vergangenheit existiert nicht „da hinten“. Sie existiert jetzt, als Erinnerung, als Ursachen und Wirkungen, die in diesen Moment verwoben sind. Die Zukunft existiert nicht „da vorne“. Sie existiert jetzt, als das, was passieren könnte, als unsere Pläne, als das, wohin unsere Handlungen führen.
Jeder Moment geschieht nicht einfach in der Zeit; jeder Moment ist Zeit selbst. Eine Kiefer ist Zeit. Ein Berg ist Zeit. Sie, der Sie diese Worte lesen, sind Zeit.
Diese tiefgründige Idee hat einen sehr praktischen Nutzen. Sie führt zur „Übung im Handeln“. Wenn alle Zeit im Jetzt ist und jeder Augenblick das ganze Sein ist, dann ist jeder Augenblick eine Chance zum Üben.
Üben beschränkt sich nicht nur darauf, täglich zwanzig Minuten auf unserem Meditationskissen zu sitzen. Auf dem Kissen trainieren und schärfen wir unser Verständnis, doch die eigentliche Trainingshalle ist unser Leben.
Wenn Sie Geschirr spülen, spülen Sie einfach Geschirr. In diesem Moment ist der Akt des Abwaschens – das Wasser, das Spülmittel, der Teller – Ausdruck des gesamten Universums. Es ist Sein-Zeit. Es ist die Praxis.
Sie „üben“ nicht, um woanders hinzugehen, zu einem „spirituelleren“ Moment. Sie leben ganz in der Seinszeit des Waschens. Das ist das Herzstück des Dōgen-Zen-Buddhismus.
Der Shōbōgenzō
Was ist das Shōbōgenzō?
Dōgens größtes Werk, sein Lebenswerk, ist das Shōbōgenzō (正法眼藏). Der Titel bedeutet „Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“.
Dies ist kein Buch, das Schritt für Schritt eine Argumentation Punkt für Punkt aufbaut. Es handelt sich vielmehr um eine Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen, sogenannte Faszikel, die Dōgen seinen Mönchen über mehr als zwanzig Jahre hinweg gab.
Das Werk umfasst 95 Faszikel, die jeweils einen anderen Teil von Buddhas Lehre behandeln. Der Stil ist oft poetisch, voller scheinbarer Widersprüche und sehr persönlich. Es zielt nicht nur darauf ab, vom Verstand verstanden zu werden, sondern auch die starren Vorstellungen des Lesers über die Realität herauszufordern und aufzubrechen.
Der Titel selbst lehrt etwas. Er legt nahe, dass diese Sammlung eine Schatzkammer (蔵) ist, die die direkte Sicht (眼) des wahren Weges (正法) enthält.
Themen und Sprache
Das Shōbōgenzō dreht sich um mehrere Hauptthemen: warum die Realität nicht in einzelne Dinge aufgeteilt ist, die Natur der Seinszeit, warum Praxis und Erleuchtung dasselbe sind und warum direkte Erfahrung wichtiger ist als Wissen aus zweiter Hand.
Dōgen verwendet Sprache auf ungewöhnliche Weise. Er verwendet häufig gängige buddhistische Begriffe und stellt sie auf den Kopf, indem er Wortspiele, scheinbare Widersprüche und eindrucksvolle Bilder verwendet.
Er tut dies mit Absicht. Er verwendet Worte, um die Grenzen der Worte aufzuzeigen. Seine Schriften geben keine endgültigen Antworten, sondern weisen auf eine Realität hin, die nur direkt erfahren werden kann. Deshalb studieren die Menschen den Text auch heute noch intensiv.
Eine Säule des Zen
Das Shōbōgenzō ist der Haupttext der Sōtō-Schule des Zen und gilt als Meisterwerk der japanischen religiösen und philosophischen Literatur.
Es stellt den Höhepunkt von Dōgens Leben der Praxis und des Hinterfragens dar. Es ist sein umfassendes Bemühen, das Unaussprechliche in Worte zu fassen und den lebendigen Kern der Lehre an künftige Generationen weiterzugeben.
Das Lesen des Shōbōgenzō bedeutet, eine direkte Verbindung zum Geist eines Meisters herzustellen.
- Genjōkōan (現成公案): Erforscht, wie sich die Realität als grundlegendes Rätsel zeigt; spricht über Übung, Erkenntnis und Verwirrung.
- Uji (有時): Das Schlüsselkapitel über Sein und Zeit, wie oben besprochen, in dem es darum geht, wie Existenz und Zeit eins sind.
- Bendōwa (辨道話): Ein „Vortrag über die aufrichtige Praxis des Weges“, in dem er seine Kernlehren zum Zazen vorstellt.
- Busshō (佛性): Ein neuer Blick auf die Buddha-Natur, der argumentiert, dass es sich nicht um ein Potenzial handelt, das verwirklicht werden muss, sondern um das gesamte Sein im Augenblick.
Das bleibende Erbe
Vom Kloster zum Globus
Hunderte von Jahren lang blieben Dōgens Lehren hauptsächlich in den Tempeln der Sōtō-Schule in Japan verbreitet. Im 20. Jahrhundert jedoch wurden seine Werke übersetzt und in der ganzen Welt bekannt.
Der Einfluss des Dōgen-Zen-Buddhismus hat sich inzwischen weltweit verbreitet. Seine tiefen Erkenntnisse haben nicht nur buddhistische Praktizierende, sondern auch Philosophen, Dichter, Künstler und spirituell Suchende aller Herkunft berührt.
Seine sorgfältige Aufschlüsselung des Dualismus und sein komplexes Verständnis von Zeit passen gut zur modernen westlichen Philosophie und sogar zu einigen Ideen der Physik.
Ihre Praxis, Ihr Leben
Dōgens letzte Botschaft ist tiefgründig und unglaublich einfach zugleich. Erleuchtung ist kein weit entferntes Ziel, sondern ein magischer Zustand, den man nach Jahren harter Arbeit erreicht.
Es ist die Realität Ihres Lebens, genau hier und jetzt. Sie zeigt sich, wenn Sie sich voll und ganz auf jeden Moment einlassen.
Die erstaunliche Reise, die Dōgen von einem traurigen Kind in Kyoto zu einem großen Lehrer in seinem Bergtempel unternahm, steht uns allen offen. Sie erfordert weder eine Reise nach China noch ein Leben abseits der Gesellschaft.
Es beginnt und endet mit dem einfachen, radikalen Akt, in diesem Augenblick mit unserem eigenen Körper und Geist vollkommen präsent zu sein. Das ist die Schatzkammer. Das ist das wahre Dharma-Auge.