Der Mann, der Mythos, der Geist
Das Bild ist ikonisch: ein bärtiger Mönch mit grimmigem Blick, in eine rote Robe gehüllt, der entweder intensiv blickt oder tief in Meditation versunken ist. Er ist als Bodhidharma bekannt, eine Schlüsselfigur in den Geschichten des Zen und sogar in Legenden der Kampfkünste.
Bodhidharmas Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er brachte Chan, später bekannt als Zen-Buddhismus, nach China. Bodhidharma gilt als erster Patriarch und begründete eine direkte Lehre von Geist zu Geist, die bis heute fortgeführt wird.
Dieser Artikel geht über die berühmte Geschichte „Neun Jahre vor der Wand“ hinaus. Wir werden uns die reale Person, sein überraschendes Gespräch mit einem Kaiser und seine wichtigsten Lehren, die „Zwei Eingänge und Vier Übungen“, ansehen.
Reise von West nach Ost
Ein Prinz oder ein Mönch?
Wer war diese bedeutende Persönlichkeit, bevor sie nach China kam? Es gibt nur wenige Fakten, und manchmal stimmen sie nicht überein, was zu Debatten über seine Herkunft geführt hat.
Die meisten Menschen glauben aufgrund späterer chinesischer Quellen, dass Bodhidharma der dritte Sohn eines Königs aus Südindien war. Dieser Prinz gab sein königliches Leben auf, um buddhistischer Mönch zu werden und bei Meister Prajñātāra zu studieren.
Eine frühere Geschichte, die in den „Aufzeichnungen der buddhistischen Klöster von Luoyang“ zu finden ist, nennt ihn einen „Perser aus Zentralasien“. Obwohl diese Vorstellung weniger verbreitet ist, zeigt sie doch, wie sich buddhistisches Gedankengut entlang der Seidenstraße verbreitete. Egal, wo er geboren wurde, sein Ziel war klar: eine direkte Form des Buddhismus nach Osten zu bringen.
Buddhismus im vorzenischen China
Als Bodhidharma im 5. Jahrhundert n. Chr. China erreichte, war der Buddhismus dort bereits verbreitet. Er existierte bereits seit Hunderten von Jahren und wurde von den Herrschern stark unterstützt.
Doch die Praxis konzentrierte sich oft auf äußere Formen. Der Buddhismus dieser Zeit stützte sich stark auf das Übersetzen von Texten, das Tun guter Taten wie den Bau von Tempeln und Spenden an Klöster sowie die Durchführung komplexer Rituale. Es war ein Weg des Lernens und der Hingabe.
Bodhidharma verfolgte einen ganz anderen Schwerpunkt. Er lehrte, dass man die Wahrheit nicht nur in Büchern oder Ritualen finden könne, sondern durch die direkte Betrachtung des eigenen Geistes durch Meditation.
Der Kaiser und der Mönch
Einer der berühmtesten Momente in Bodhidharmas Leben war sein Treffen mit Kaiser Wu von Liang. Dieses Treffen zeigte zwei sehr unterschiedliche Denkweisen.
Der fromme Kaiser Wu
Kaiser Wu war vielleicht der größte königliche Förderer des Buddhismus in der chinesischen Geschichte. Er gab Unsummen für den Glauben aus, baute Tempel, bildete Tausende von Mönchen aus, half bei der Übersetzung von Texten und führte selbst ein strenges Leben.
Der Kaiser war der Meinung, er habe sich eine große spirituelle Autorität erworben und wollte unbedingt, dass sein neuer Meister aus dem Westen dies bestätigte.
Ein Dialog über Verdienste
Der Kaiser rief den Mönch zu sich und ihr Gespräch, das niedergeschrieben wurde, wurde zu einer Schlüssellehre des Zen.
Kaiser Wu fragte: „Seit ich Kaiser bin, habe ich Tempel gebaut, Schriften bestellt und Mönche unterstützt. Was habe ich Gutes damit erreicht?“
Bodhidharma antwortete: „Überhaupt nicht gut.“
Der Kaiser war von dieser Antwort schockiert und fragte: „Was ist dann die höchste Bedeutung der heiligen Wahrheiten?“
Bodhidharma sagte: „Große Leere, nichts Heiliges.“
Der Kaiser war nun völlig verwirrt und stellte eine letzte Frage: „Wer steht denn vor mir?“
Bodhidharma antwortete: „Ich weiß es nicht.“
Das Prinzip der Nichtverdienstlichkeit
Bodhidharmas Antwort war nicht unhöflich; sie war eine tiefgründige Lehre. Der Kaiser betrachtete gute Taten als einen Tauschhandel – eine Investition, die sich im Himmel oder durch Karma auszahlen sollte.
Bodhidharma kam gleich zur Sache. Jede Handlung, die mit der Erwartung einer Belohnung ausgeführt wird, mit einem „Ich“, das etwas bekommt, ist immer noch im Ego und Verlangen gefangen. Solche Handlungen, auch wenn sie gut erscheinen, führen nicht zu wahrer Freiheit.
Wahres Gutes ist selbstlos. Es entsteht durch Handlungen, die dem Dharma entsprechen und ohne an sich selbst zu denken oder ein bestimmtes Ergebnis zu wünschen. Dies ist eine zentrale Idee des Bodhidharma-Zen-Buddhismus.
Seine Antwort: „Unendliche Leere, nichts Heiliges“ weist auf die ultimative Wahrheit jenseits von Ideen und Namen hin. Es gibt keine heiligen Dinge oder Ideen, an denen man festhalten könnte.
Und sein abschließendes „Ich weiß es nicht“ war der vollkommenste Ausdruck dieser Wahrheit. Er gab nicht vor, es nicht zu wissen. Er verwies auf eine Realität jenseits der erfundenen Identität von „Bodhidharma“ oder „Kaiser“. Er verwies auf die wahre Natur des Seins, die nicht fassbar ist.
Als Bodhidharma sah, dass der Kaiser für diese direkte Unterweisung nicht bereit war, verließ er den Hof und ging nach Norden.
Neun Jahre, eine Wand
Bodhidharma reiste, bis er das Shaolin-Kloster auf dem Berg Song erreichte. Hier spielte sich der berühmteste und oft am meisten missverstandene Teil seines Lebens ab.
Die Praxis von Bìguān
Die Geschichte besagt, dass Bodhidharma neun Jahre lang in einer Höhle vor einer Wand saß, so intensiv, dass sich sein Schatten in den Fels brannte. Diese eindringliche Geschichte bedarf einer genaueren Betrachtung.
Die von ihm praktizierte Praxis wird bìguān oder „Wandstarren“ genannt. Dabei geht es nicht nur darum, auf eine physische Wand zu starren.
Die „Mauer“ ist ein Symbol für den Geist selbst. Bìguān ist eine tiefe Meditation, die den Geist stabil, fest und unzerstörbar macht. Sie ist wie eine Mauer, die weder von äußeren Ablenkungen noch von inneren Gedanken durchbrochen werden kann. Es ist eine Praxis stetiger geistiger Stabilität und Präsenz. Die neun Jahre, ob real oder symbolisch, stehen für eine Zeit intensiver und hingebungsvoller Praxis.
Die Hingabe von Huike
Während Bodhidharma meditierte, kam ein Gelehrter namens Dazu Huike auf der Suche nach Unterricht. Er hatte viele Ideen studiert, war aber nicht zufrieden. Als er von dem Meister in Shaolin hörte, ging er in die Höhle.
Bodhidharma ignorierte ihn zunächst. Huike gab nicht auf und wartete vor der Höhle, während der Schnee zu fallen begann und ihm bis zu den Knien reichte. Er blieb standhaft und zeigte damit seinen wahren Wunsch nach der Lehre.
Schließlich sprach Bodhidharma und fragte, was er wolle. Huike flehte darum, das Dharma zu lernen. Um zu beweisen, wie ernst es ihm war und wie bereit er war, alles für die Wahrheit aufzugeben, schnitt Huike der Geschichte zufolge seinen linken Arm ab und gab ihn Bodhidharma.
Angesichts dieser totalen Hingabe nahm Bodhidharma ihn als seinen Schüler an. Dieser dramatische Akt ist ein kraftvolles Symbol für die völlige Aufrichtigkeit und Bereitschaft, alles loszulassen – sogar den eigenen Körper und das eigene Leben –, die der Weg des Zen erfordert.
Legende versus Geschichte
Bodhidharmas Leben ist von unzähligen Geschichten und Mythen umgeben, die über Jahrhunderte hinweg entstanden, um seine spirituelle Kraft zu betonen. Für einen ernsthaften Zen-Schüler ist es hilfreich, zwischen populärer Legende und wahrscheinlicher historischer Wahrheit zu unterscheiden.
Legende / Volksmythos | Historische / wissenschaftliche Perspektive |
---|---|
Bodhidharma gründete Shaolin Kung Fu. | Das ist sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlich gab es in Shaolin schon vor seiner Ankunft Kampfkunst. Die Verbindung zwischen Bodhidharma und Kung Fu entstand erst viel später, wahrscheinlich während der Ming-Dynastie, um den Kampfkünsten Prestige zu verleihen. |
Aus seinen Augenlidern, die ihm abgeschnitten wurden, um ihn am Schlafen zu hindern, wurden die ersten Teepflanzen. | Dies ist ein bezauberndes Volksmärchen. Es zeigt auf schöne Weise die historische Verbindung zwischen Zen-Mönchen und Tee, der als mildes Stimulans verwendet wurde, um während langer Meditationsphasen wach zu bleiben. |
Er überquerte den Jangtsekiang auf einem einzigen Schilfrohr. | Dies ist eine klassische religiöse Geschichte, die in vielen Traditionen verbreitet ist. Sie symbolisiert seine tiefe spirituelle Errungenschaft und mühelose Beherrschung der physischen Welt. |
Neun Jahre lang saß er mit dem Gesicht vor einer Wand und brannte seinen Schatten in den Fels. | Die „neun Jahre“ symbolisieren wahrscheinlich eine lange, ununterbrochene Periode intensiver Meditation. Die Praxis war Bìguān (geistige Stabilität), nicht buchstäbliches Starren auf Wände, das körperliche Spuren hinterließ. |
Die Trennung dieser Schichten macht Bodhidharma nicht weniger wichtig. Vielmehr ermöglicht sie uns, uns auf den Kern dessen zu konzentrieren, was er uns gegeben hat: seine eigentlichen Lehren.
Das Herzstück der Lehre
Die Essenz von Bodhidharmas Philosophie wird in einem mit ihm in Verbindung gebrachten Text zusammengefasst, der als „Zwei Eingänge und vier Übungen“ bekannt ist. Dieser Rahmen bietet einen vollständigen Weg, der Einsicht und Handeln kombiniert.
Zwei Eingänge zum Weg
Bodhidharma lehrte, dass es zwei Hauptwege gibt, den Pfad oder das Tao zu betreten.
Der erste ist der Zugang durch Prinzipien ( Lǐrù ). Dies ist der direkte Weg zur Erkenntnis. Unter Anleitung eines Lehrers erkennt man, dass alle Wesen, vom Weisen bis zum Gewöhnlichen, dieselbe wahre Natur besitzen. Diese grundlegende Natur wird durch Verwirrung und falsche Gefühle verborgen, geht aber nie verloren. Indem man sich vom Falschen zum Wahren wendet und in einem Zustand geistiger Ruhe verharrt, geht man über Konzepte hinaus und verbindet sich mit diesem Grundprinzip.
Der zweite ist der Einstieg durch Übung ( Xíngrù ). Dies ist der schrittweise Weg des Handelns, der die durch Prinzipien gewonnene Einsicht unterstützt und vertieft. Für diejenigen, die möglicherweise nicht für sofortige Einsicht bereit sind, beinhaltet dieser Weg die Reinigung des eigenen Verhaltens im täglichen Leben. Dieser Einstieg umfasst die vier Übungen.
Die vier Leitpraktiken
Diese vier Praktiken bieten eine konkrete Anleitung für ein Leben im Einklang mit dem Dharma. Es handelt sich nicht um abstrakte Regeln, sondern um praktische Methoden, um in allen Situationen mit dem Geist zu arbeiten.
-
Die Praxis, Widrigkeiten zu akzeptieren ( Bàoyuānxíng )
- Konzept: Wenn wir Leid oder Not erleben, sollten wir nicht mit Schuldzuweisungen oder Groll reagieren. Wir können es als Folge unserer eigenen vergangenen Handlungen (Karma) verstehen. Indem wir Not ohne Klagen hinnehmen, verbrauchen wir altes negatives Karma und vermeiden neuen Groll. So durchbrechen wir einen schädlichen Kreislauf.
- Moderne Anwendung: Dies ist ein wirksames Mittel, um Widerstandsfähigkeit aufzubauen. Anstatt zu fragen: „Warum passiert mir das?“, können wir Herausforderungen mit der Frage angehen: „Was kann ich daraus lernen?“ Es geht darum, die volle Verantwortung für unseren inneren Zustand zu übernehmen, egal, was im Außen passiert.
-
Die Praxis der Anpassung an Bedingungen ( Suíyuánxíng )
- Konzept: Alle Dinge, sowohl angenehme als auch schmerzhafte, entstehen aus Abhängigkeiten. Sie sind nicht von Dauer und haben kein festes Selbst. Deshalb sollten wir uns nicht zu sehr über Glück freuen und nicht zu sehr über Verlust. Wir bleiben ruhig und ausgeglichen und bewegen uns im natürlichen Fluss des Lebens, ohne uns auf ein bestimmtes Ergebnis festzulegen.
- Moderne Anwendung: Dies ist die Praxis der Loslösung und der vollen Akzeptanz. Wir können tiefen Frieden finden, indem wir strenge Erwartungen und das Bedürfnis, alles zu kontrollieren, loslassen. Es geht darum, mit den Höhen und Tiefen des Lebens zu fließen, im Wissen, dass „auch dies vorübergehen wird“.
-
Die Praxis, nichts zu suchen ( Wúsuǒqiúxíng )
- Konzept: Gewöhnliche Menschen sind ständig auf der Suche nach Ruhm, Reichtum, Vergnügen und Anerkennung. Dieses endlose Verlangen ist die Hauptquelle allen Leidens. Wahre Freiheit bedeutet, nicht danach zu streben. Das bedeutet nicht, passiv zu sein, sondern zu handeln, ohne von weltlichen Ambitionen oder Wünschen getrieben zu sein.
- Moderne Anwendung: Wir können innere Motivation entwickeln und Freude am Prozess selbst finden, anstatt uns nur auf das Ergebnis zu konzentrieren. Diese Praxis fördert den Wechsel von einem Leben der hektischen Jagd hin zu einem Leben der inneren Zufriedenheit und Zielstrebigkeit, das nicht von äußerer Anerkennung abhängt.
-
Die Praxis des Handelns im Einklang mit dem Dharma ( Chēngfǎxíng )
- Konzept: Dharma ist die Wahrheit grundlegender Reinheit und Leere. Im Einklang mit ihm zu handeln bedeutet, aus Weisheit und Mitgefühl zu leben. Dies beinhaltet das Praktizieren von Tugenden wie Großzügigkeit (die Sechs Paramitas), jedoch ohne die Vorstellungen von „Geber“, „Empfänger“ oder „Geschenk“. Es ist reines Handeln, das aus dem Verständnis unserer Verbundenheit erwächst.
- Moderne Anwendung: Dies ist die Zusammenführung aller Praktiken in einem ethischen und realen Leben. Es geht darum, Achtsamkeit, Weisheit und Mitgefühl in jede Handlung einzubringen, von der Arbeitsweise bis hin zum Umgang mit anderen, im Wissen, dass unser Wohlbefinden nicht vom Wohlbefinden aller getrennt werden kann.
Die ungebrochene Kette
Bodhidharmas Vermächtnis besteht nicht nur aus Texten oder Legenden, sondern aus der lebendigen Weitergabe seines Verständnisses.
Übertragung an Huike
Nach Jahren des Studiums fragte Huike seinen Meister: „Ich habe meinen Geist beruhigt. Gibt es noch etwas?“ Bodhidharma sah, dass Huike ein tiefes Verständnis erlangt hatte.
Anschließend übergab er die Linie offiziell an Huike und machte ihn zum zweiten Patriarchen des Zen in China. Diese Weitergabe wurde durch die Übergabe von Bodhidharmas eigener Robe und Bettelschale zum Ausdruck gebracht, Gegenstände, die als Zeichen wahren Erwachens an die ersten sechs Patriarchen weitergegeben wurden.
Neudefinition des chinesischen Buddhismus
Bodhidharmas Ankunft stellte einen Wendepunkt dar. Er verlagerte den Schwerpunkt im chinesischen Buddhismus.
Er lenkte die Aufmerksamkeit von der Gelehrsamkeit, den intellektuellen Debatten und den auf Verdiensten basierenden Ritualen ab. Er verwies direkt auf den menschlichen Geist als Quelle von Gefangenschaft und Freiheit. Seine Lehre war einfach, direkt und bestimmt: „Eine besondere Übermittlung außerhalb der Schriften; keine Abhängigkeit von Worten und Buchstaben; direktes Hinzeigen auf den menschlichen Geist; Einblick in die eigene Natur und Erlangung der Buddhaschaft.“
Ein unerschütterlicher Geist
Bodhidharmas Welt war geprägt von Unruhe und Wandel, ganz ähnlich wie unsere. Sein Leben und seine Lehren vermitteln eine zeitlose Botschaft.
Der Kern seiner Praxis – ob „Wandbetrachtung“ oder „Verharren in Prinzipien“ genannt – ist die Entwicklung eines unerschütterlichen Geistes. Es ist ein Geist, der Härten ertragen, sich an Bedingungen anpassen, nichts suchen und aus tiefer Weisheit handeln kann. In unserer modernen Welt voller Ablenkung und Unsicherheit bietet der Weg des Bodhidharma-Zen-Buddhismus einen tiefen und praktischen Weg, Stabilität, Klarheit und wahre Freiheit in uns selbst zu finden.