Mit neuen Augen sehen
Ein Zen-Meister sagte: „Bevor ich Zen studierte, waren Berge Berge und Wasser Wasser. Als ich eine Zeit lang Zen studiert hatte, waren Berge keine Berge mehr und Wasser kein Wasser mehr. Aber als ich Erleuchtung erlangte, waren Berge wieder Berge und Wasser wieder Wasser.“
Diese Reise beschreibt das Herz der Zen-Praxis. Sie weist auf eine tiefe und doch einfache Art hin, die Welt zu sehen.
Soheit, oder Tathatā auf Sanskrit, ist der Kern dieser Praxis. Es bedeutet, die Realität genau so zu sehen, wie sie ist, ohne dass unsere Urteile oder Etiketten im Weg stehen. Dies ist das reine „Sosein“ der Dinge, bevor unser Verstand uns sagt, was sie sind oder ob sie uns gefallen.
Wir werden untersuchen, wie man vom bloßen Verständnis der Zen-Ideen zum tatsächlichen Erleben des Soseins im Zen-Buddhismus gelangt. Der Weg führt dazu, die Welt mit neuen Augen zu sehen.
Von der Leere zur Soheit
Um Soheit wirklich zu verstehen, müssen wir wissen, wie sie mit Leere zusammenhängt. Diese Konzepte sind wie zwei Seiten derselben Medaille.
Auffrischung zum Thema Leere
Leere bedeutet nicht, dass da nichts ist. Im Buddhismus bedeutet es, dass nichts für sich allein existiert.
Ein Baum ist nicht einfach nur ein Baum. Er ist auch Sonne, Regen, Erde und Luft. Alles ist miteinander verbunden und verändert sich ständig. Wenn wir das verstehen, können wir aufhören, an starren Vorstellungen festzuhalten.
Die andere Seite
Wenn wir wirklich erkennen, dass nichts ein festes, getrenntes Selbst hat, können wir die Dinge endlich so sehen, wie sie wirklich sind. Das ist Soheit.
Leere vertreibt unser nebliges Denken. Soheit ist das, was wir durch das saubere Fenster sehen – die lebendige Welt, so wie sie ist. Leere zerstört unsere falschen Vorstellungen, während Soheit uns hilft, die Realität zu erkennen.
Perspektiven vergleichen
So lassen sich diese beiden Ideen vergleichen:
Besonderheit | Leere (Śūnyatā) | Soheit (Tathatā) |
---|---|---|
Fokus | Dekonstruktion; Erkennen des Mangels an inhärenter Existenz. | Wertschätzung; Dinge so sehen, wie sie sind, in ihrer Einzigartigkeit. |
Natur | Die ultimative Natur der Realität (vernetzt, vergänglich). | Der phänomenale Ausdruck dieser Realität. |
Erfahrung | Eine Befreiung von Anhaftung und Illusion. | Eine direkte, intime und wundersame Auseinandersetzung mit dem Leben. |
Metapher | Der Raum in einer Tasse, der sie nützlich macht. | Die einzigartige Form, Farbe und Textur der Tasse selbst. |
Die Anatomie der Soheit
Sosein ist nicht nur eine Idee. Es ist ein echter Wandel in unserer Sichtweise. Es geht ums Sehen und Fühlen, nicht ums zu viel Denken.
Radikale Nicht-Urteilen
Dies geht über das bloße „Nicht-Urteilen von Menschen“ hinaus. Im Zen bedeutet es, mit der Angewohnheit aufzuhören, alles mit Etiketten zu versehen.
Wir sortieren die Dinge immer: gut/schlecht, schön/hässlich, richtig/falsch. Dieses mentale Rauschen hindert uns daran zu sehen, was real ist.
Denken Sie an Unkraut im Garten. Die meisten Menschen bezeichnen es als „Problem“. Im Zustand der Soheit sehen wir lediglich eine grüne Pflanze mit ihrer eigenen Form im Boden wachsen. Das Urteil fällt weg.
Das Ende der Dualität
Normalerweise fühlen wir uns von dem, was wir beobachten, getrennt. Da bin „ich“, der „das“ betrachtet.
Das Sosein reißt diese Mauer nieder. Das Gefühl der Trennung verschwindet.
Sie sind nicht länger nur ein Mensch, der dem Regen lauscht. Sie erleben das gesamte Erlebnis – den Klang, den Geruch und das Gefühl von Feuchtigkeit in der Luft. Es gibt keine Trennung.
Dies ist der Schlüssel zum Zen. Wie der Dritte Patriarch schrieb: „Der Große Weg ist nicht schwer für diejenigen, die keine Vorlieben haben.“ Wenn wir unsere Vorlieben und Abneigungen aufgeben, beginnt die Kluft zwischen uns selbst und anderen zu schwinden.
Direkte, unmittelbare Erfahrung
Dies ist der Kern des Soheits-Zen-Buddhismus. Die Erfahrung kommt vor dem Denken. Es ist der Roheindruck unserer Sinne, bevor unser Verstand ihn verarbeitet.
Stellen Sie sich vor, Sie berühren eine heiße Tasse. Für den Bruchteil einer Sekunde spüren Sie nur die Hitze. Erst danach kommen Gedanken: „Das ist heiß“, „Ich könnte mich verbrennen.“
Soheit bedeutet, im ersten Moment des reinen Kontakts mit der Realität zu verweilen. Es ist die Sache selbst, nicht unsere Gedanken darüber.
Von der Theorie zur Teetasse
Diese Philosophie sollte Teil des täglichen Lebens sein. Soheit findet man nicht in besonderen Zuständen, sondern in gewöhnlichen Aktivitäten.
Die Praxis von „Just This“
Eine einfache Möglichkeit, Soheit zu entwickeln, ist die Praxis des „Nur Dies“. Was auch immer Sie tun, widmen Sie ihm Ihre volle Aufmerksamkeit.
Spüren Sie beim Abwaschen das warme Wasser auf Ihren Händen. Achten Sie auf das Gewicht des Tellers und das Geräusch des Schwamms. Erinnern Sie sich: „Nur das.“ Nicht das Abendessen von gestern oder die Pläne für morgen. Nur dieses Wasser, dieser Teller, dieser Moment.
Versuchen wir es mit Teetrinken.
Nehmen Sie die Tasse in die Hand. Spüren Sie ihr Gewicht und ihre Wärme in Ihren Händen. Denken Sie nicht: „Das ist eine schöne Tasse.“ Fühlen Sie sie einfach.
Sehen Sie, wie der Dampf aufsteigt. Analysieren Sie ihn nicht. Beobachten Sie einfach.
Führen Sie die Tasse an Ihre Lippen und riechen Sie daran. Nehmen Sie den einzigartigen Duft wahr, ohne ihn als „grünen Tee“ zu bezeichnen. Erleben Sie ihn einfach.
Nehmen Sie einen Schluck. Achten Sie auf Geschmack, Temperatur und Gefühl. Folgen Sie dem Gefühl beim Schlucken.
Bei dieser Übung liegt Ihre ganze Aufmerksamkeit auf dem einfachen Akt des Teetrinkens. Das ist Soheit in Aktion.
Eine fünfminütige Übung
Versuchen Sie diese kurze Übung:
- Suchen Sie ein Objekt: Wählen Sie etwas Einfaches wie einen Stein, einen Stift oder ein Blatt.
- Beobachten ohne zu benennen: Betrachten Sie es eine Minute lang einfach. Achten Sie auf seine Form, Farbe und das Lichtspiel darauf. Wenn Gedanken kommen, lassen Sie sie sanft los.
- Einen anderen Sinn aktivieren: Schließen Sie die Augen und berühren Sie den Gegenstand. Ist er glatt oder rau? Schwer oder leicht? Warm oder kühl? Bleiben Sie bei dem rohen Gefühl.
- Achte auf deinen Geist: Deine Gedanken schweifen ab: „Das ist langweilig“, „Wozu?“ Kämpfe nicht gegen diese Gedanken an. Nimm sie einfach wahr wie vorbeiziehende Wolken und kehre zum Objekt zurück.
- Loslassen und ausruhen: Legen Sie den Gegenstand nach einigen Minuten ab. Setzen Sie sich ruhig hin und spüren Sie die Ruhe, die einsetzt.
Die Ästhetik der Soheit
Soheit hat die japanische und vom Zen inspirierte Kunst stark beeinflusst. Diese Kunstformen helfen uns, dieses tiefe Konzept zu verstehen.
Wabi-Sabi-Schönheit
Wabi-Sabi bedeutet, Schönheit in unvollkommenen oder unvollständigen Dingen zu finden. Es verbindet sich direkt mit dem Sosein.
Eine handgemachte Teetasse mit einem Riss wird nicht als „kaputt“ angesehen. Der Riss wird Teil ihrer einzigartigen Geschichte. Wabi-Sabi feiert die Dinge, wie sie sind, nicht wie wir denken, dass sie sein sollten.
Haiku-Schnappschüsse
Traditionelle Haiku-Gedichte drücken Momente des Soseins aus. Sie erklären oder urteilen nicht. Sie stellen einfach direkte Erfahrungen dar.
Betrachten Sie diesen Klassiker von Basho:
Ein alter stiller Teich ...
Ein Frosch springt in den Teich—
Platsch! Wieder Stille.
Das Gedicht enthält keinen Kommentar. Es versetzt uns einfach mit Klang, Bewegung und Stille in die Szene. Dies ist die Soheit des Zen-Buddhismus, in Worte gefasst.
Zen-Gärten
Auch Zen-Steingärten (Karesansui) bringen dieses Prinzip zum Ausdruck. Sie sind keine Modelle größerer Landschaften.
Sie sind selbst Landschaften. Die Felsen sind einfach nur Felsen. Der geharkte Sand ist einfach nur Sand.
Sie laden zur direkten Betrachtung von Form und Raum ein. Ihr Zweck besteht darin, den denkenden Geist zu beruhigen und eine direkte Erfahrung dessen zu ermöglichen, was vor Ihnen liegt.
Die Fülle der Gegenwart
Wir haben uns vom Verständnis der Leere zum Erleben der Soheit bewegt. Wir haben gesehen, dass Soheit der positive Ausdruck der Leere ist, der durch Nicht-Urteilen und direkte Wahrnehmung erfahren wird.
Dies ist kein fernes Ziel oder ein besonderer Zustand, der nur Meistern vorbehalten ist. Sosein ist in jedem Augenblick, mit jedem Atemzug verfügbar.
Es liegt im Geschmack des Wassers, im Gefühl des Windes, im Klang einer Sirene und in der Beschaffenheit Ihres Stuhls. Es ist die Welt, die darauf wartet, entdeckt zu werden, genau so, wie sie ist.
Bei der Zen-Praxis geht es nicht darum, der Welt zu entfliehen. Es geht darum, wirklich in ihr anzukommen. Dieses Ankommen ist Soheit.